Der widerspenstige Sohn

Eine höchst anstößige Stelle der Tora/des Alten Testaments ist die vom widerspenstigen Sohn, besonders auch für Kritiker von Religion und Kirche. So führt die Webseite Bibelzitate.de (www.bibelzitate.de/gbz.html) sie im Abschnitt „Grausame Bibelzitate“ unter der Überschrift „Todesstrafe für widerspenstige und ungehorsame Söhne!“ auf.Worum geht es? „Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte.“ (Devarim/Deuteronomium/5. Mose 21,18-21; Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung 1984)Ungehorsam, Prasserei und Trunksucht als todeswürdige Verbrechen – starker Tobak, in der Tat. Wie damit umgehen? Am besten en passant übergehen? Erklären mit der „Gesellschaftsordnung in der älteren Zeit“ (Stuttgarter Erklärungsbibel, Stuttgart 1992, zur Bibelstelle) und damit als für uns heute obsolet kennzeichnen? Anders verfährt das rabbinische Judentum. Es liest den Text, der ja von Gott gegeben ist und daher ernst genommen werden muss, überaus genau, spitzfindig möchte man fast sagen. Wann wird einer zu einem widerspenstigen Sohn? Sobald er zwei Haare aufweist und bis er bärtig ist (Mischna Sanhedrin 8,1), und solange er noch nicht reif ist Vater zu sein (Talmud Sanhedrin 68) – eine Zeit von gerade einmal drei Monaten im Alter von 13 Jahren. Welche Bedingungen müssen – unter vielen anderen – die Eltern erfüllen? „(…) nur, wenn sowohl der Vater als die Mutter ihren erziehlichen Einfluß auf ihn geltend machen, und nur, wenn, wie dies V. 20 heißt, (…) Vater- und Mutterstimme eine Stimme ist, beide dem Kind (…) in übereinstimmenden, einheitlichem Meinen und Wollen gegenüberstehen: nur dann können sie sich sagen, ihre Schuld sei es nicht, wenn ihr Kind mißraten.“ (Samson Raphael Hirsch, Der Pentateuch, übersetzt und erläutert, Frankfurt 1911, zur Bibelstelle). Weitere Bedingungen werden an die Ältesten gestellt. Daher ist der Fall der Steinigung eines widerspenstigen Sohnes, wie auch der Talmud schreibt, niemals eingetreten und wird auch nie eintreten – das Anstößige wurde „weginterpretiert“.

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