Der Prozess gegen Jesus

„Als der Herr Jesus Christus auf Veranlassung der Juden durch das römische Gericht zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet worden war, hinterließ er eine völlig entmutigte und zusammengebrochene Jüngerschar.“ Das ist der erste Satz in einem Schulbuch für den evangelischen Religionsunterricht der Mittelstufe höherer Schulen, das noch in den 1970er Jahren benutzt wurde (Martin Rang unter Mitarbeit von Otto Schlißke, Die Geschichte der Kirche, Göttingen 1959, 12. Aufl. 1968 in Frakturschrift(!) im renommierten Verlag Vandenhoeck und Ruprecht veröffentlicht).

Wie sieht es mit der „Veranlassung“ – die ja auch Verantwortung bzw. Schuld beinhaltet – „der“ Juden am Tod Jesus’ aus? Die Evangelien sind sich recht einig mit einer Schuldzuweisung an die Juden, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Allerdings sind sie erst Jahrzehnte nach der Kreuzigung entstanden und in erster Linie Verkündigung, nicht Geschichtsschreibung, die historische Fakten liefern will. Die Initiative zur Festnahme und Auslieferung an Pilatus ging in der Tat von Juden aus, vom amtierenden Hohenpriester und seinen Anhängern aus der mit Rom zusammenarbeitenden, Jesus feindlich gegenüber stehenden Partei der aristokratischen Sadduzäer (David Flusser, Jesus, Reinbek b. Hamburg, 5. Aufl. 2013, S. 123ff., dem ich hier folge, nennt die Gruppe „Tempelkomitee“). Der Vorwurf war Gotteslästerung, so auch Mk. 14, 61ff. Ob es aber eine Gerichtsverhandlung im Hohen Rat, dem Synhedrion, überhaupt gegeben hast, ist unsicher bis unwahrscheinlich, eher ist ein Verhör durch den Hohenpriester und seine Partei anzunehmen. Ein Todesurteil jedenfalls konnte, anders als bei Mk. 14, 64 geschildert, nur Pilatus als Vertreter Roms fällen, deshalb die Auslieferung an ihn.

Pilatus war eher wenig an innerjüdischen religiösen Streitigkeiten interessiert, aber der Jesus unterstellte (und von diesem nicht deutlich zurückgewiesene) Anspruch, der „König der Juden“ zu sein, musste ihn interessieren: das war Rebellion, Anstiftung zum Aufruhr, Hochverrat. Die dafür vorgesehene Strafe war Kreuzigung, wozu Pilatus Jesus denn auch verurteilte. Und den Vorwurf am Kreuz denn auch bildlich darstellte: INRI.

Eine Schuld „der“ Juden am Tod Jesus‘, ein wesentlicher Grund für den christlichen Antijudaismus bzw. Antisemitismus, kann daraus nicht abgeleitet werden. Lediglich eine, zudem kleine und elitäre, Partei des damaligen Judentums trägt ihren Teil der Verantwortung.

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