In der Neuen Synagoge Gelsenkirchen war im Juni 2021 auf Einladung der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gelsenkirchen der Schriftsteller Ariel Magnus zu Gast. Magnus ist der aktuelle MetropolenschreiberRUHR der Brost Stiftung (noch bis Oktober 2021). Er ist Argentinier mit jüdisch-deutschen Wurzeln in seiner Familienbiographie: mehrere seiner Großeltern mussten aus NS-Deutschland nach Südamerika flüchten.
Mit seiner Familiengeschichte hat sich Magnus in verschiedenen Werken beschäftigt, in fiktionalen und in nichtfiktionalen. Und die Familiengeschichte auch mit der Zeitgeschichte verwoben. Und in „Die Schachspieler von Buenos Aires“ – kongenial übersetzt von Silke Kleemann – auch mit der Literaturgeschichte. Hauptfiguren sind der Großvater des Autors, Heinz Magnus, 1937 mit Eltern und Schwester von Hamburg nach Buenos Aires geflüchtet, die deutsche Schachspielerin Sonja Graf und der jüdisch-argentinische Journalist Yanofsky. Zudem treten auf diverse Schriftsteller, Journalisten und vor allem Schachspieler_innen, darunter die (Ex-)Weltmeister Aljechin und Capablanca und die Weltmeisterin im Frauenschach Vera Menchik-Stevenson. Denn 1939 fand, zeitlich zusammenfallend mit der Entfesselung des Weltkrieges durch Deutschland, in Buenos Aires die Schacholympiade statt.
Überraschend reist auch Mirko Czentovic, der Schachweltmeister aus Stefan Zweigs „Schachnovelle“, an. Ihm wird eine zentrale Rolle in Heinz Magnus’ Plan zugedacht, den Sieg des deutschen Teams zu verhindern. Heinz Magnus war der Großvater des Autors, aus dessen Tagebuchaufzeichnungen ausführlich zitiert wird, eingebunden in das fiktionale Setting. Letztlich wird der Plan nicht verwirklicht, und Deutschland siegt, aufgrund und trotz zahlreicher Absprachen hinter den Kulissen. Der Sieg der Deutschen im Schach verweist auf die Politik – Schach als Metapher für den Krieg. Wie wir wissen, gelang dort zum Glück nicht, was dem „großdeutschen“ Schachteam gelang. Dafür liefert der Roman – und die Realität – eine ironische Voraussicht: keiner der deutschen Spieler kehrt nach Hause zurück, alle bleiben auf Dauer in Argentinien, auch wenn sie überwiegend dem NS-System nahe stehen.
Eine andere reale Person wird eher beiläufig zitiert, hat aber eine zentrale Funktion für die Struktur des Romans: Jorge Luis Borges, der berühmte argentinische Schriftsteller (S. 155). Zwar nicht so überbordend wie in dessen Werken, aber als deutlich erkennbarer Grundzug wird auch in den „Schachspielern“ neben real existierenden Personen und Geschehnissen Nichtwirkliches oder sogar Unmögliches in die Realität des Romangeschehens einbezogen.
Die „Schachspieler von Buenos Aires“ bieten ein spannendes und intellektuelles, durch zahlreiche Reflexionen bereichertes Leseabenteuer. Nicht nur für Schachliebhaber empfehlenswert. Ein Ausblick: Noch in diesem Monat erscheint die deutsche Übersetzung des neuen Romans von Ariel Magnus über die Jahre Adolf Eichmanns in Argentinien, „Das zweite Leben des Adolf Eichmann“. Nach ersten Auszügen ebenfalls eine hoch interessante und empfehlenswerte Lektüre.
Bibliographische Angaben: Ariel Magnus, Die Schachspieler von Buenos Aires, Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018, 336 Seiten, 22 Euro