An Biographien über Theodor Herzl, den Begründer des modernen politischen Zionismus‘, herrscht kein Mangel. Neu erschienen ist im letzten Jahr als Übersetzung aus dem Französischen eine weitere, in Form eines Comics, oder, wie es heute anspruchsvoller heißt, einer Graphic Novel.Der Autor Camille de Toledo greift zu dem Kunstgriff, das Leben Herzls und seine Ideen in einer zweiten, fiktiven Biographie zu spiegeln: Ilya Brodsky ist ein jüdischer Junge, der in den 1880er Jahren nach einem Pogrom unter der Obhut seiner älteren Schwester aus einem Schtetl im russischen „Ansiedlungsrayon“ flieht und nach einer Station in Wien nach London gelangt. Dort lebt er als Fotograf und Mitarbeiter anarchistischer und sozialistischer, auch jiddischer Zeitungen, bleibt letztlich aber ein einsamer Außenseiter. Im Gegensatz dazu ist Theodor (eigentlich Tivadar) Herzl ein Angehöriger des Großbürgertums. Mit seinen Eltern kommt er als Jugendlicher nach dem Tod seiner geliebten älteren Schwester aus Budapest nach Wien. Er will zunächst Schriftsteller werden, hegt den Traum von Aufführungen am Burgtheater, geht dann aber als Korrespondent für die renommierten Zeitung Neue Freie Presse nach Paris, wo er die Idee von einem Judenstaat für alle verzweifelten und heimatlosen Juden entwickelt. In Brodsky Sichtweise als selbst Heimatloser und von seiner geliebten Schwester (sie geht in die USA und stirbt dort) Verlassener ist der Grund für Herzls rastlosen Einsatz für den Zionismus und seine Utopie eines Judenstaats – er reibt sich dafür auf und stirbt bereits mit 44 Jahren – Heimweh nach seiner Kindheit. Besonders prägnant ist dabei die Erinnerung an seine Schwester und die Trauer über ihren Tod. Was wie eine Vision für die Zukunft aussieht, ist somit eigentlich ein Blick zurück. In Brodskys Worten: „Und was ist der Zionismus anderes, wenn nicht eben ein in die Zukunft übertragenes Heimweh. (…) also nichts anderes als das in Wind und Kälte gelassene Grab in Pest? Ein zum Traum von Macht, von neuem Leben umgewandeltes Grab, das zum Staat wurde?“ (S. 203). Das Buch bietet damit eine sehr individuelle, an die zu dieser Zeit aufgekommene Psychoanalyse angelehnte, aber durchaus anregende Interpretation der verborgenen Intentionen Herzls durch die Figur Brodsky, der selbst sein Leben lang – das Buch beginnt mit seinem Freitod und wird im Rückblick erzählt – seine verlorene Kindheit im Schtetl nicht verwinden kann. Alexander Pavlenko fängt in holzschnittartigen schwarz-weißen, gelblich-bräunlich getönten Bildern sowohl die Großstädte London, Paris und Wien als auch das kleinstädtische Leben in Russland atmosphärisch dicht ein. Die Darstellung diverser historischer Figuren, teilweise auch in einem Glossar erläutert, und Anspielungen trägt ebenfalls dazu bei, dass diese ungewöhnliche Biographie das Interesse des Lesers und der Leserin gewinnt.
Bibliographische Angaben: Camille de Toledo, Alexander Pavlenko: Herzl – Eine europäische Geschichte. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Eva-Maria Thimme. Berlin 2020: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 352 Seiten, 25 Euro